Kay Heymer, Leiter der Moderne, Museum Kunstpalast Düsseldorf, 2017

Der Maler Yury Kharchenko wurde 1986 geboren und wuchs im Rheinland auf. Nachdem er im Alter von 13 bis 15 Jahren privaten Malereiunterricht bei dem russischen Künstler und Dichter Vilen Barsky erhalten hatte, absolvierte er von 2004-2008 ein Studium der freien Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Von Beginn an interessierte sich der Maler für die spirituelle Dimension der Kunst und arbeitete in einem Bereich zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die formalen Möglichkeiten der Malerei mit Ölfarbe auf Leinwand setzt er mit großer Variabilität ein, Farbe erscheint in seinen Bildern als pastose Materie ebenso wie als durchscheinende, mit Lösungsmitteln stark verdünnte Lasur, die er in vielen Schichten über die Leinwand fließen lässt. Farbe erscheint leuchtend bunt, aber auch in komplexen Mischungen und naturhaften Tönungen. Yury Kharchenko reflektiert in seiner Kunst die jüdische Identität seiner Familie. Der Großvater des Künstlers hieß Grynspan, änderte jedoch seinen Namen in Kharchenko und verbarg damit seine jüdische Herkunft in der Gesellschaft der Sowjetunion, gerade auch während seiner Teilnahme am 2. Weltkrieg als Soldat der roten Armee. Für Yury Kharchenko wurde diese zum Teil tabuisierte Identität zu einem wesentlichen Thema seiner ästhetischen Selbstfindung. Er erforschte Werke jüdischer Künstler und Dichter und beschäftigte sich mit theologischen Fragen.

Das großformatige Gemälde Simeon – House of Spirit gehört zu einem Zyklus von zwölf Bildern, die den zwölf Stammvätern Israels gewidmet sind, den Söhnen des Patriarchen Jakob – Ruben, Simeon, Levi, Juda, Dan, Naftali, Gad, Ascher, Issachar, Sebulon, Josef und Benjamin. Jedes dieser Gemälde, die zwischen 350 x 200 und 260 x 200 cm messen, verkörpert einen dieser Söhne Jakobs in Form eines abstrahierten Hauses. Das Bild des Hauses appelliert an die traditionsstiftende Rolle dieser jüdischen Gründerväter, ohne in eindimensionalem Sinn eine Geschichte zu illustrieren. Die variantenreiche Malweise Kharchenkos, wie sie in dem Gemälde Simeon ablesbar ist, verweist ebenso wie das große Format auf Vorläufer und Inspirationsquellen in der Tradition der amerikanischen Malerei des Abstrakten Expressionismus – besonders auf Mark Rothko und Barnett Newman. Indem er die gegenstandslose Bildsprache dieser Meister der amerikanisch-jüdischen Malerei an das einfache Motiv des Hauses bindet, demonstriert er einen eigenen Standpunkt, ohne epigonal zu sein oder einer postmodernen Strategie folgend bloße Zitate anzufertigen. Die Gemälde von Yury Kharchenko sind vielfach überarbeitet und vielschichtig – Farbe wurde aufgetragen, wieder abgenommen, in pastoser und in stark verflüssigter Form aufgebracht. Seine Gemälde wirken dank ihrer komplexen Herstellungstechnik gleichzeitig expressiv und anonym, aktuell und zeitlos.

Yury Kharchenkos gemalte Häuser zeigen, dass Malerei auch heute noch spirituelle Erfahrungen reflektieren und anregen kann. Sie repräsentieren jedoch nur eine Seite der Malerei Kharchenkos. Seine Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität hat ihn zu einer Reihe wesentlich aggressiverer Werke geführt, in denen er den bis heute anhaltenden Antisemitismus attackiert und auf die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 verweist. Sein verschütteter Familienname Grynspan wies ihn auf Herschel Grynspan hin, den jungen jüdischen Mörder des NS-Botschafters Ernst vom Rath in Paris, dessen Tat zum willkommenen Anlass für die sogenannte Reichskristallnacht am 8. November 1938 wurde. Kharchenko malte eine Reihe von Selbstbildnissen, in denen er sich mit seinem ermordeten Verwandten identifizierte.

In der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ im Sommer 2017 im ehemaligen Gefängnis von Wittenberg zeigte Kharchenko dann ein Porträt des nationalsozialistischen Reichsbischofs Ludwig Müller, der die späten antisemitischen Schriften Martin Luthers für die Nazis erschloss, denen der Tag des Geburtstages des protestantischen Reformators zum idealen Datum für die „Reichskristallnacht“ wurde. Neben seinem Selbstbildnis als Herschel Grynspan und dem provokanten Porträt des Reichsbischofs präsentierte Kharchenko auch zwei kleinformatige Häuser, die an den Zyklus der „Houses of Spirit“ anknüpfen, zu denen Simeon gehört.

Yury Kharchenkos Malerei ist engagiert und idealistisch, getragen vom Glauben an das Potenzial einer sinnlich wie theoretisch überzeugenden Konzeption, die gleichzeitig zur heutigen Situation Stellung nimmt und auf dauerhafte Präsenz angelegt ist.