Marcus Steinweg, 2021

PHILOSOPHISCHE MALEREI zu Yury Kharchenko

 

Sucht man ein philosophisches Denken zu verstehen, muss man den Punkt des ihm inhärenten Schreckens aufsuchen. Als untersuche man einen funktionierenden Organismus unter Zuhilfenahme aller möglichen Instrumente, um seine wunde Stelle auszumachen, den Inkonsistenzpunkt des Systems. System nennen wir die Einheit eines Funktionszusammenhangs, die sich der Ausblendung eben dieses Punkts verdankt. Statt die ebenmäßigen Konturen dieses Zusammenhangs aufzuzeigen, sie zärtlich abzufahren, um die Legitimität und Plausibilität des Ganzen zu bekräftigen, bedeutet zu denken, sich seinen Schwachpunkten zuzuwenden, die ihm im Modus des Ausgeblendeten, Verneinten oder Verdrängten angehören, im Modus also dessen, worüber man ungern spricht.

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Schamlos am philosophischen Denken ist seine Insistenz auf den Schamteilen sämtlicher Bedeutungs- und Sinnarchitekturen, weshalb es über die Reputation verfügt, wenn nicht unnütz, entbehrlich zu sein. Die Sokratesfigur der platonischen Dialoge ist ein solcher Störfaktor, dessen unablässiges Fragen den Antwortzusammenhang, den eine Gesellschaft = Ideengemeinschaft darstellt, ins Wanken zu bringen droht. Die Gefahr, die vom philosophischen Fragen ausgeht, hat mit dessen Beharren auf den Blindheitsanteilen der doxologischen Welteinrichtung des Menschen zu tun. Sie richtet sie nicht nur gegen die papiernen Konstruktionen des Nichtdenkens, das Denken selbst, seine systematischen Gefüge, stehen zur Disposition.

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Nietzsches Hammer riskiert die gesamte ihm voraufgehende Metaphysik zu zertrümmern. Sämtliche Ideenarchitekturen werden auf ihre Konsistenz und Verlässlichkeit geprüft. Dem Denken tut sich ein Abgrund auf und darauf reagiert es mit Erschrecken. Ob es der Abgrund der transzendentalen Einbildungskraft Kants ist, den Heideggers Analysen aufsuchen, oder die sich nicht mehr schließende Tür einer Sinnvorstellung, die mit dem Nichtsinn koinzidiert, mit der Unmöglichkeit seiner Gründung in sinnfälliger Architektur oder Systematik, immer sieht sich die Philosophie einem Schlund überantwortet, dem sie sich nur unter Gefahr des Selbstverlusts nähern kann. Sie antwortet auf die Anrufung durch ein Chaos, dessen Kraft zur Verwüstung ihrer Bedeutungsbestände immens ausfällt. Solange sie sich weigert, sich mit Schweigen zu begnügen, erfolgt ihre Antwort mit gebrochener Stimme, als bliebe ihr kaum mehr übrig, als nicht zu antworten oder es nur zögerlich zu tun.

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Jeder philosophische Satz wird zum Ausdruck der Weigerung, nichts zu sagen, obwohl eben dies angemessen zu sein scheint. Als ginge es darum, dennoch zu sprechen angesichts des schrecklichen Abgrunds, der zwischen Subjekt und Welt klafft, um Subjekt- und Weltvorstellung ihrer Inkonsistenz zu überführen. Es gibt Philosophie von dem Moment an, an dem sich das denkende Etwas, das später Cogito heißt, dem Schrecken inkommensurabler Verhältnisse öffnet, um diese Öffnung als Denken zu praktizieren. Im Herzen der Denken genannten Operation persistiert der Schrecken, der aus ihr eine monströse Angelegenheit macht, einen gleichermaßen unverantwortlichen wie notwendigen Hyperbolismus. Dessen Affirmation hat sich jeder Philosoph zur Aufgabe gemacht.

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Philosophie ist der Name der Selbstdestabilisierungsdynamik, die das Denken seiner Zersetzung preisgibt. Im Zentrum philosophischer Selbst- und Weltaneignung steht die Erfahrung von deren Scheitern, sowie des Scheiterns von dessen Dokumentation. Nichts daran erzwingt Miserabilismus. Im Gegenteil: Der Moment der Erfahrung dieses doppelten Scheiterns setzt das philosophische Denken erst in Gang. Es ist damit weder aufs sichere Gleis eines gewissen Hegelianismus gesetzt, einer Glück-im-Unglück-Dialektik, noch verfällt es dem aphoristischen Lamento Schopenhauers oder Ciorans. Dies gilt es zu verstehen: Dass die konstruktive Kraft des Denkens mit der Einsicht ins Abgründige seiner Akte koinzidiert, mit dem Wissen also, dass noch die schillernste systematische Architektur den Schrecken ihrer Herkunft aus dem Namenlosen bezeugt, das den Abgrund markiert, von dem kein Denken lassen kann, während keine seiner Vorstellungen es je erreicht.

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Ich glaube, dass die Malerei von Yury Kharchenko sich im Horizont philosophischer Tradition mittels der Schönheit dem Schrecken dieses Abgrunds nähert, aus dem Wissen um seine Unhintergehbarkeit. Sie tut es ohne versteckte Pädagogik, ohne Versprechen auf Katharsis, ohne Versprechen überhaupt. Es handelt sich um Malerei, die, indem sie sich auf sich verlässt, den Punkt eines Außerhalbs avisiert, der nie erfasst und fixiert werden kann. Kharchenko ist überlegt genug, um zu wissen, dass dieses Außerhalb nichts einfach äußerliches ist. Analog zum „Aussen“ (dehors) Maurice Blanchots ist es innerlicher als jedes Innen und äußerlicher als jedes Außen. Es lässt sich mit der Innen-Aussen-Dualität nur verfehlen, es ist, was ihr per definitionem entweicht.

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Vielleicht lässt sich sagen, dass die in Teilen sehr flüssig Malerei Kharchenkos eine Malerei des Entweichens ist, der Verflüssigung, der Liquidation. Immer bewegt sie sich aufs Entweichende zu, so, dass sie, noch wenn sie sich ihm nähert, sich von ihm zu entfernen und es aufzulösen beginnt. Sie nähert sich dem, wovon man sich entfernen muss, in dem Moment, in dem es einem nahe kommt. Zu nahe, als Index des ontologischen Abgrunds, der nicht nur das philosophische Denken mit seinen Grenzen konfrontiert.

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Kharchenkos Malerei ist Malerei an der Grenze zum Schrecklichen wie an der Grenze der Malerei. Ihre philosophische Dimension betrifft diese mit dem Denken geteilte Grenzerfahrung am Limes des nicht internalisierbaren Aussen, das sie in Gang setzt und in Bewegung hält, so, dass es ihm Exil in den Bildern zu gewähren versucht, mit der nüchternen Geduld der Kunst, die ihr eigenes Denken im Medium der Formen und Farben generiert.

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Eine Malerei des Entweichenden also, deren Artikulationsform die Liquidation ist. Malerei, die den Punkt der Zerstörung aufsucht, nicht um ihn zu hypostasieren oder zu zelebrieren, sondern um ihm Raum zu geben im Prozess der Annäherung an ihn. Man muss an Rilke denken, an dessen Zeile vom Schönen als des Schrecklichen Anfang in seinen Duineser Elegien. Aber auch an den Mythos von Orpheus und Eurydike, an den Topos der gefahrvollen Annäherung ans Monströse oder Göttliche, an die Wahrheit zuletzt, die den Punkt absoluter Indifferenz markiert, das gesichtslose Antlitz des Realen, angesichts dessen das Subjekt zu erblinden oder zu sterben droht.

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Das Drama der Erblindung angesichts des Unsichtbaren, das dem Subjekt die Augen aushöhlt, ihm seine Blicke stiehlt und es ins Dunkle verführt, wo es nichts mehr weiß und nichts mehr sieht, ist das Drama jeder Malerei, die sich nicht mit der Registratur des Sichtbaren und der Affirmation der Evidenzen begnügt, um den Punkt ihrer impliziten Inevidenz aufzusuchen, von wo aus gesehen sämtliche Sichtbarkeiten sich in nichts aufzulösen beginnen und alle Konstruktionen, seien sie ästhetischer, kultureller, sozialer Art, irreversibel zerfallen.

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Kharchenkos Malerei stellt sich diesem Punkt, im vollen Vertrauen auf die Möglichkeiten der Malerei, ihm eine wenn auch privative Apparenz im Bild zu verschaffen, was nur mit Beharrlichkeit, immer neuen Anläufen, mit Geduld, Gelassenheit und Freude am Malen selbst geht. Der Malakt ist kaum weniger wichtig als sein Ergebnis, als das also, was man zwingend überhastet das fertige Bild nennt. Im Zentrum von Kharchenkos Unternehmen blitzen diese Fragen auf: Was ist ein Bild? Was bedeutet Darstellung? Inwiefern ist nicht das Bild selbst Bildgegenstand, mehr noch als das, was es an Gegenständlichem oder Identifizierbarem zeigt?

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Gewisse Bilder Kharchenkos werfen Märchenmotive auf. Sie tun es, um den ungreifbaren Kern, die unser Realitätsgefüge sprengende Kraft der Imagination zu evozieren. Der Realitätsbegriff selbst wird zur Disposition gestellt angesichts der allzuwirklichen Wirklichkeit dessen, was in Auschwitz geschah, um die Frage nach der Darstellbarkeit des Undarstellbaren aufzuwerfen, unter Umgehung der ihr impliziten Gefahr, der Sublimierung des Schrecklichen zum negativen Absoluten, seiner Quasitheologisierung und Enthistorisierung, die Gefahr laufen würden, die einfache Tatsache nicht einfach zu benennen: dass geschah, was geschah, jenseits kategorialer Sinnstiftung, die im Herzen jeder Sublimierungsleistung persistiert. Dass also Kunst nicht verstummen soll angesichts des Grauens, dass sie im Gegenteil dort, wo sie an ihre Grenzen reicht, ihren Ort hat, ihre prekäre, ungesicherte, immer auch zweifelhafte Notwendigkeit und Präsenz.

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Zuletzt geht es ums Letzte, um das also, was im Register der fixen Realitäten als Irreales auftaucht, was da ist im Modus des Abwesenden oder des Abwesens, des Schwindens, der Ungreifbarkeit, um das Unverfügbare also, dessen Wirkungsmächtigkeit nicht unterschätzt werden kann. Das Unverfügbare erweist sich als Zielpunkt einer Malerei, die sich der Leere im Wirklichen zukehrt, jedoch tut sie es nicht mit den Mitteln der Abstraktion. Die figurativen Elemente in Kharchenkos Bildern öffnen einen Verweisungszusammenhang, der kunsthistorische wie literarische und filmische Narrationen aufruft, allerdings nie, ohne sie nicht zugleich ihrer Brüchigkeit oder Kontingenz zu exponieren.

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Kharchenko weiß, dass zum Menschsein Exponiertheit gehört, die jedem Humanismus seine Grenzen aufweist. Die Vergeblichkeit der Existenz, ihr Hineingerissensein ins Inkommensurable, dem sie zu antworten versucht, in irgendeiner Weise zu entsprechen und sei es mit den Mitteln der Kunst, darf nicht zu dessen Hypostasierung führen. Eher muss ein Weg der Anmessung ans Unermessliche eingeschlagen werden; Weg, den zu Ende zu gehen, jedem Künstler verwehrt bleibt.

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Immer geht es darum, im Sichtbaren das Unsichtbare zu sehen. Sich dem Punkt zu nähern, dem man nur um den Preis der Erblindung fokussieren kann. Den Blick also des Orpheus zu wagen, der, wie Maurice Blanchot ausführt, „in der Nacht das Zentrum der Nacht“ zu betrachten trachtet, jener Nacht, der ins Angesicht zu blicken tödlich ist: „In der Nacht das zu betrachten, was die Nacht verbirgt, die andere Nacht, die Verschleierung, die erscheint.“

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Wiederholt taucht das Motiv des Hauses in Kharchenkos Bildern auf und damit das Thema der Behausung, die Frage der Geschützt- und Sicherheit, folglich auch diejenige ihrer Trügerischkeit und Prekarität. Indem Kharchenko die Frage nach seiner jüdischen Identität verhandelt, öffnet er diese Frage der Erfahrung auch einer gewissen Unbeantwortbarkeit. Fragen, ohne auf vergewissernde Antworten hoffen zu dürfen, gehört zum Movens seiner Kunst, die, indem sie sich der Brüchigkeit von Identität zuwendet, ins Universelle umschlägt, insofern die Auseinandersetzung mit transzendentaler Unbehaustheit, mit identitärer Unbestimmtheit und elementarer Orientierungslosigkeit im Horizont der Inexistenz Gottes zur Normalität des Subjekts der Moderne wie Postmoderne gehört. Es ist die Frage, die jeden Menschen heimsucht, sobald ihm die Unmöglichkeit bewusst wird, in seiner Welt heimisch zu sein und sein zu können. Das menschliche Subjekt muss ohne Heilserwartung auskommen, ohne apriorische Gesichertheit in irgendeiner transzendenten Programmatik, ohne Illusion heroischen Beistands angesichts der alles Menschliche durchgreifenden Unmenschlichkeit, vor der kein Humanismus die Augen verschließen darf.

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Sobald das Subjekt nach sich fragt, findet es sich der Bewegung eines Umherirrens überlassen, das nicht enden will. Es beginnt zu begreifen, dass sein Selbst kaum mehr als Attrappe ist, ausgehöhlt durch die Gegenwart des Nichts in ihm, eines es entsubstanzialisierenden Leere, der Kharchenkos Bilder mit ihrer leuchtenden Farbigkeit und rückhaltlosen Schönheit ebenso zu opponieren wie Rechnung zu tragen scheinen. Es ist dieser doppelte Zug von Opponenz und Anerkennung, der seine Malerei ausmacht. Sie nähert sich dem Dunklen, um ihm mit blühender Koloratur zu opponieren. Doch markiert sie es damit zugleich, schiebt es nicht weg, schafft ihm unhintergehbare Präsenz und erschütternde Resonanz. Es handelt sich um einen Grenzgang auf der Scheidelinie von Schönem und Schrecklichem, der sich weigert, dem Schrecklichen den Status des negativen Erhabenen zuzusprechen. Der es vielmehr in seiner indifferenten Grausamkeit ins Bild einholt als das, dem Kunst, die mehr als L’art pour l’art sein will, nicht ausweichen kann.

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Emmanuel Lévinas hat analog zu Derridas Dekonstruktion der am Modell voller Präsenz orientierten logozentrischen Metaphysik Philosophie als „Verfinsterung möglicher Präsenz“ beschrieben. Es geht darum, einer Dunkelheit im Evidenzspektrum, das wir unsere Realität zu nennen gewöhnt sind, zu entsprechen, ohne in den Obskurantismus zu gehen. Das ist die Aufgabe: Ihr stellt sich mit den Mitteln der Malerei auch Yury Kharchenko. Hieraus beziehen seine Bilder ihre flirrende Präsenz: aus der Evidenz- und Präsenzerschütterung, die sie leisten, indem sie aufs Grauen bezogen bleiben, ohne sich ihm zu beugen und ohne es zu ignorieren. Sie eröffnen den Blick auf eine Welt, die heute wie gestern und vorgestern letzter Konsistenz und Verlässlichkeit entbehrt. Welt ohne Hinterwelt, ohne Aussicht ins Paradiesische, die einzige Welt, die wir haben. Nur die Kunst zählt, die in der Immanenz dieser Welt am Punkt ihrer Rissigkeit operiert, ihres inhärenten Schreckens und Wahnsinns, die sich also weigert, an irgendwelcher Schönfärberei, was ihre inkonsistenten und namenlosen Anteile betrifft, zu partizipieren.

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Vielleicht lässt sich angesichts von Yury Kharchenkos Malerei  Rilkes Vers aus den Duineser Elegien auch so wenden: Das Schöne ist nicht nur des Schrecklichen Anfang, es resistiert ihm auch, indem es es markiert, also ein Dennoch im Herzen der Seinstotalität erprobt und affirmiert, das als Konfrontation des Nichtbejahbaren, gelten kann, als nietzscheanisches Amor fati, das ein Sichhalten des Subjekts im Ozean ontologischer Indifferenz, akosmischer Kontingenz wie faktischer Inhumanität indiziert. Vielleicht ist es das, was Kunst leisten kann unter den Bedingungen ihrer nahezu Verunmöglichung: sich dem Katastrophischen zu stellen, das sie selbst darstellt. Gilles Deleuze schreibt: „Womöglich werden wir über einem Boden der Zerstörung geboren, aber wir werden keine Chance vertun.“