Micha Brumlik, 2020

Ein Akt der Barbarei? Yury Kharchenkos Bilder von Auschwitz
„Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. “ So der nach Deutschland zurückgekehrte Theodor W. Adorno in einer 1951 veröffentlichten Festschrift für den Soziologen Leopold von Wiese. Jahre später – so schien es – widerrief Adorno: „Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.”  Jahre später analysierte der Regisseur und Theaterwissenschaftler Peter Stein die Debatte um dieses Zitat. Jahre später dann, in Adornos „Negativer Dialektik“ hiess es:
“Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.”


Adorno immerhin war Zeitgenosse des Grauens, was aber bringt einen jungen Maler, zwei, – nein drei Generationen später – Bilder zu malen, die alles, was Adorno mit seinem berühmt gewordenen Diktum skandalisieren wollte, bei weitem in den Schatten stellen? Der Maler Yury Kharchenko – er gehört der dritten Generation von Juden nach dem Holocaust an – wurde 1986 in Moskau geboren und studierte von 2004-2008 an der Düsseldorfer Kunstakademie sowie von 2009-2011 am Seminar für Jüdische Theologie in Berlin, dann von 2011-2012 in Potsdam, um mit einer Arbeit über die von Jacques Derrida beeinflusste Philosophie der Kunst in Potsdam promoviert zu werden. Wir haben es also mit einem Maler zu tun, der sich der systematischen Gehalte seiner Arbeiten wohl bewusst ist. Während sein Anfang der 2000er Jahre entstandener Zyklus „Man and Window – Magic windows“ bzw. „Between two Worlds“  in verrinnenden, düsteren Farben verschwindende Gestalten zeigt, weist das 2012 gemalte Bild „Death Fuge of Paul Celan Today“ eine in sich bewegte gelbe Fläche auf, auf der die ersten Zeilen von Celans Todesfuge „Schwarze Milch der Frühe“ in schwarzer Schrift erscheint. Bei alledem scheut Kharchenko das Figürliche nicht. Sei es der Kardinal Richelieu, sei es die Geburt Jesu, seien es Rabbi Akiba oder Abraham oder die Kreuzigung der Sängerin Amy Winehouse oder Martin Luther: die Porträts, die Kharchenko von berühmten Zeitgenossen – von Celan über Kafka, Georg Simmel und Einstein bis zu Sigmund Freud und Simon Wiesenthal weisen ihn als einen Maler aus, der es um das Antlitz, ja um das jüdische Antlitz im neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhundert – geht: Gesichter, die ebenso markant sind, wie sie denn doch – was ihre schiere Körperlichkeit betrifft – deutliche Zeichen des Verschwimmens und Verschwindens aufweisen.  Anders Kharchenkos jüngst entstandene Bilder zu Auschwitz, die in gewisser Weise genau das zum Thema haben, was oben anhand der Zitate  von Adorno angesprochen wurde.
Es dies sind Bilder, die schon auf den ersten Blick keineswegs nur verstören, sondern – jedenfalls den Autor dieser Zeilen – zutiefst schockieren. „Arbeit macht frei“ war das zynische, mörderische Motto über der Zufahrt zu diesem Vernichtungslager – Kharchenko scheut sich nicht, diese Devise in freundlichen, gelben Farben wiederzugeben – über Gestalten indes, die jedenfalls auf den ersten, nein auch auf den zweiten und dritten Blick unpassender nicht sein könnten. Es sind dies Gestalten aus der us.amerikanischen Welt der Comics und Zeichentrickfilme –  vermenschlichte Hunde und Hasen sowie Supermänner. So zeigt Das 2019 entstandene Bild „Dagobert Duck protecting his money in front of Auschwitz“ Walt Disneys Uncle Scrooge auf einem Geldsack sitzend, während perspektivisch versetzt am Horizont die Zufahrt zum Vernichtungslager zu sehen ist, während – um nur zwei dieser Bilder beispielhaft zu analysieren – das Bild „Waiting for a Super Hero – Goofy, in front of Auschwitz Gates“ den etwas trotteligen Freund von Micky Maus  fröhlich unter dem makabren Motto „Jedem das Seine“ zeigt. Kharchenko hat weitere dieser Bilder mit Comic Gestalten wie BatMan oder Bugs Bunny vor dem Hintergrund von nationalsozialistischen Vernichtungslagern gemalt.
Indes: während inzwischen literaturwissenschaftlich mehr oder minder geklärt sind, das Figuren wie Superman oder Batman aus der Feder jüdischer Zeichner stammten, die sehr wohl noch als Zeitzeugen die Greuel der NS Herrschaft erlebten, ist dies bei den Figuren Walt Disneys keineswegs der Fall. Stand doch Walt Disney, nach allem, was bekannt ist, ohne  dass dies je bestätigt werden konnte, lange Jahre im Ruf, antisemitisch gesonnen zu sein – was mittlerweile – wenn auch nicht endgültig – widerlegt zu sein scheint. Doch wer sind „Onkel Dagobert“ und „Goofy“? Dagobert Duck, wie ihn  vor allem der Zeichner Carl Barks charakterisiert hat, war in seiner Jugend ein fanatischer Goldsucher, um später zum berühmtesten Geizkragen der Comic Welt zu werden, der das Geld auch in seiner materiellen Form als Scheine und Münzen geradezu libidinös liebte und es genoss, es auf seiner Haut zu spüren. Goofy hingegen erweist sich in den Comics als liebenswerter Trottel- bei Wikipedia lesen wir folgenden Eintrag:
„Goofy (adj. engl. für „albern“, „doof“) ist eine von Art Babbitt (Arthur Harold Babitsky, 1907–1992) erdachte Comicfigur, die einen anthropomorphen Hund darstellt. Goofy gehört, wie auch Donald Duck, mit zu den ersten Disneyfiguren. Er ist bald darauf zum treuen Freund von Micky Maus geworden. Ursprünglich hieß er Dippy Dawg („verdrehter Hund“), 1939 wurde die Figur dann aber in Goofy umbenannt.[…] Goofy ist freundlich und treu, fällt aber eher durch seine Naivität und Tollpatschigkeit auf“ .
Der Schöpfer dieser Gestalt, Art Babbitt, charakterisierte Goofy Jahre später so: „He Goofy was someone who never really knew how stupid he was. He thought long and carefully before he did anything, and then he did it wrong”
Eines zumindest lässt sich sagen: sowohl der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus als auch die wesentlichen Gestalten des Comic Universums der USA entstanden in denselben Jahren – den 1930er und 1940er Jahren des „kurzen“ Zwanzigsten Jahrhunderts, das als solches von 1914 bis 1989 währte. Nun ist aus der philosophischen Hermeneutik Gadamers bekannt, das sich der Sinn einer wie auch immer symbolischen Äusserung – handele es sich um wissenschaftliche oder künstlerische Texte welcher Symbolsprache auch immer: in Worten, Bildern oder Tönen nicht auf die Intention ihrer Urheber reduzieren lässt. Daher kann es im folgenden  in erster Linie auch nicht darum gehen, was der Maler Yury Kharchenko seinem Publikum mitteilen wollte, sondern, darum, was auf diesen Bildern „objektiv“ zu sehen ist. Eine mögliche Deutung des „Uncle Scrooge“, des „Dagobert Duck“ Bildes wird berücksichtigen müssen, dass auf dem Geldsack, auf dem der Enterich sitzt, das Symbol des Euro zu sehen ist, zudem, dass der klassisch anmutende Bilderrahmen durchgängig mit Davidsternen übersät ist. Deutende Assoziationen liegen nahe: dass es der Geist des Finanzkapitalismus ist, der ein angemessenes Gedenken an die Shoah verhindert, mehr noch: dass der Reichtum Europas auf dem Rücken der ermordeten Juden erwirtschaftet wurde. Oder doch mindestens: dass dieser Reichtum willentlich ein angemessenes Gedenken verhindert: sitzt doch Dagobert wie ein Wächter mit einer Art Stock vor dem Zugang zum Vernichtungslager. Und Goofy? Das Motto, unter dem wir ich ebenso fröhlich wie trottelig laufen sehen, war das Motto zwar nicht eines Vernichtungs-, wohl aber eines Konzentrationslagers, indem gleichwohl Abertausende von Menschen ermordet wurden – Buchenwald bei Weimar. Über dem gelb gemalten Lager Motto, das – hier irrt Kharchenko – nicht das Motto von Auschwitz war, ist wiederum ein Davidstern zu sehen, was der historischen Wahrheit zwar nahekommt, aber  nicht ganz: war doch Buchenwald zunächst vor allem ein Lager für politische Häftlinge.
An Kharchenkos Lagerbildern fällt – im Unterschied zu seinen Porträts jüdischer Geistesgrössen bzw. seiner frühen „House Variations“ – auf, dass die Farbgebung eindeutiger und kräftiger ist, die Farben also nicht mehr verschwimmen, sondern pointiert ihren Gegenstand hervorheben. Lässt sich daraus schliessen, dass dem Maler als Autor jetzt tatsächlich alles klar ist, er also ganz und gar eindeutige Stellungnahmen zur (deutschen, evtl. europäischen) Erinnerungskultur abgeben will? Oder soll es – im Sinne Adornos, mutatis mutandis – um die letztlich nicht überbrückbare Diskrepanz zwischen jeder Form von Kultur hier und dem unaussprechlichen Grauen der Todeslager gehen?
Kharchenko war dieses Problems durchaus bewusst, wie sein Bild zur Todesfuge Celans aus dem Jahr 2014, aber auch seine Porträts aus dem Jahr 2017 zeigt. Das Porträt von 2017 trägt den Titel „Child’s Face of Paul Celan“ und man mag sich fragen, ob es um das Kindergesicht von Celan selbst geht, oder ob ein Kind als Autor des Porträts angedacht ist. Jedenfalls ist dieses Porträt bei aller Klarheit des Ausdrucks auch wieder vom Verrinnen gezeichnet, einem Verrinnen, dem die schwarze Schrift – jawohl Schrift ! -Vergegenwärtigung entgegensetzt. Das Wort „Deutschland“ ist auf diesem Gemälde in den – durchaus undeutlichen – Farben „Schwarz“, „Gelb“ und „Rot“ gehalten.
So bleibt dem Betrachter am Ende nur die Frage, ob es sich bei diesen Bildern um einen ausdrucksstarken Kommentar zu Adornos scharf artikulierter Aporie handelt oder nicht doch um eine mutwillig herbeigeführte Provokation – eine Provokation, die das Publikum dazu aufreizen soll, hinter den Harmlosigkeiten des popkulturellen Alltags die wesentlichen Fragen nach den Nachwirkungen des ebenso kurzen wie an Schrecklichkeit kaum zu überbietenden 20. Jahrhunderts in Deutschland  zu stellen. „Arbeit macht frei“ sowie „Jedem das Seine“ stehen als Schriftzüge über den bildhaften Comicfiguren. Das ist Kharchenko als ein  Leser Jacques Derridas nur zu bewusst.